Frau Dağdelen, Erklären Sie einem Laien, warum den Kurden in Syrien keiner hilft.
Sevim Dağdelen: US-Präsident Trump und die Bundesregierung wollen die Türkei unbedingt in der NATO halten. Deshalb hat Erdogan de facto für seinen Angriffskrieg in Afrin grünes Licht erhalten. Die mit der Türkei verbündeten FSA-Milizen, die nach der Einnahme von Afrin plündernd und mordend durch die Stadt zogen, sind seit Jahren enge Alliierte des Westens beim Versuch, einen Regime Change in Syrien herbeizuführen. Der politische Arm der FSA unterhält in Berlin sogar ein offizielles Verbindungsbüro und ist von der Bundesregierung ermächtigt, Ersatzpapiere für Syrer auszustellen. Das ist ebenso ungeheuerlich wie die Tatsache, dass selbst nach Beginn des Angriffs auf Afrin weiter deutsche Rüstungslieferungen genehmigt wurden. Die syrische Regierung wiederum hat bei der UNO gegen den Überfall protestiert, ist aber militärisch zu schwach, sich gegen eine der stärksten NATO-Armeen in Stellung zu bringen. Ein russisches Eingreifen hätte einen Konflikt mit der NATO riskiert.
Die deutsch-kurdische Gemeinde richtet sich mit einem verzweifelten Appell zum ersten Mal nicht an die Bundesregierung, sondern an die deutsche Öffentlichkeit. In der Überschrift steht „In Afrin ist Europa gefallen“. Man liest das und denkt, wird das den Terror weiter nach Europa tragen? Tragen wir zu einer Radikalisierung jetzt auch noch der Kurden in Deutschland und Europa bei? Was sollen wir tun?
Was in Afrin passiert, ist auch eine historische Schande für die deutsche Außenpolitik. Nicht nur weil die Bundesregierung die Türkei gegen die Kurden aufgerüstet hat, sondern weil jetzt sehenden Auges islamistische Monster in Syrien gezüchtet werden. In Afrin wird ähnlich dem IS-Kalifat gerade ein Raum geschaffen für Leute, die das Plündern kurdischer Häuser und die Ermordung religiöser Minderheiten als ihren Gottesdienst verstehen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass dieser islamistische Terror Deutschland nicht erreichen wird. Die Bundesregierung gefährdet deshalb mit ihrer Nibelungentreue zu Ankara auch die Sicherheit der Bevölkerung hier.
Die vollständig verfahrene Situation in Syrien macht beim Draufschauen schon irre! Wie viele „Kriegsparteien“ gibt es? Wissen Sie es?
Die Situation ist nicht so unübersichtlich wie wir vielleicht meinen. In Syrien wird ein brutaler Stellvertreterkrieg ausgetragen. Auf der einen Seite stehen diejenigen wie die USA oder auch die islamistischen Terrormilizen, auf der anderen Seite Russland, die syrische Armee und der Iran, die kein Interesse an einem Regime Change in Syrien haben. Die Kurden wiederrum, die sich dem IS entschieden endgegengestellt haben, drohen jetzt von den USA an die Türkei verkauft zu werden. Ich befürchte, die Trump-Administration wird Erdogans Forderung nachgeben und die türkische Armee auch nach Manbidsch oder in Gebiete östlich des Euphrat einrücken lassen.
Inwiefern spielt die Religion dabei eine Rolle? Die Kurden sind säkular, der IS ist fundamentalistisch-sunnitisch, Assad ist eigentlich säkular, kooperiert aber mit radikalen Schiiten…
Der Westen hat versucht, aus dem Konflikt in Syrien einen Religionskrieg zu machen, indem fundamentalistisch-sunnitische radikale Kräfte unterstützt wurden. Das war mit der Hoffnung verbunden, diese würden dann religiöse Minderheiten wie Alawiten, Drusen und Christen, die Assad stärker unterstützten, an die Wand drängen. Wie bei Goethes Zauberlehrling ist aber etwas ganz anders passiert: Angesichts der Bedrohung durch die terroristische Einführung der Scharia sind die syrische Armee und die Hisbollah-Miliz auch für ganz viele Assad-Kritiker, für Säkulare wie für fromme Sunniten, die einzige Garantie für Sicherheit in Syrien geworden. Das wurde mir in vielen Gesprächen in den Flüchtlingslagern im Libanon oder auch von Geistlichen in der gesamten Region immer wieder bestätigt. Mein Eindruck ist: Die große Mehrheit der Syrer lehnt den pseudo-religiösen Terror des IS, der Al-Kaida oder der unter dem Dach der FSA versammelten anderen islamistischen Terrormilizen ab.
Die Türkei, ein NATO-Partner kooperiert mit Präsident Assad. Muss man mit Trump sagen, dass sich die NATO erledigt hat?
Die Türkei hat von Anfang an versucht, Assad zu stürzen. Deshalb hat sie den IS unterstützt oder auch radikal-salafistische Terrorgruppen wie Ahrar Al-Sham bewaffnet. Von einer Kooperation mit Assad würde ich also nicht sprechen. Die Türkei unterstützt auch jetzt weiter die islamistischen Strukturen in der Provinz Idlib und besetzt große Teile im Norden Syriens direkt.
Wird Erdogan das Gebiet einfach weiter besetzen, ähnlich wie in Nordzypern? Mit deutschen Waffen? Ähnlich wie Putin die Krim?
Ich gehe davon aus, dass die Türkei versuchen wird, Teile Syriens zu annektieren. In der Region um Al-Bab wird die Turkisierung gefördert und die Scharia eingeführt. Die türkische Führung ist dabei, sich dort eine Bevölkerung zu schaffen, die dann nach einem Anschluss an die Türkei rufen kann. Als Zwischenlösung bedient man sich der islamistischen Terrorbanden der FSA, um Kurden und religiöse Minderheiten aus diesen Gegenden zu vertreiben. Die EU und Deutschland unterstützen diese Aktivitäten de facto, auch weil sie Ankara weiter mit großzügigen millionenschweren Finanzhilfen unter die Arme greifen, deren Verwendung schlicht nicht geprüft wird, wie der EU-Rechnungshof jüngst kritisierte. Das heißt: Nicht nur die Waffen für Erdogans Feldzug gegen die Kurden kommen aus Deutschland, sondern auch das Geld.
Sie haben schon 2016 gesagt, die Bundesregierung hat sich mit dem Türkei-Deal erpressbar gemacht. Wie kommt man aus dieser Situation raus? Als außenpolitische Sprecherin sprechen Sie unermüdlich das Problem deutscher Waffenexporte in die Kriegs- und Krisengebiete an. Warum hört keiner auf Sie?
Die Mehrheit der Bevölkerung will ein sofortiges Verbot von Rüstungsexporten. Union und SPD fühlen sich dieser Mehrheit nicht verpflichtet, sondern bedienen auf der einen Seite die Profitinteressen der Rüstungsschmieden. Durch Angebote einer Anschlussverwendung werden Leute wie Dirk Niebel oder Franz-Josef Jung, die heute bei Rheinmetall alimentiert werden, dazu angehalten, in ihrer Politikerzeit die Interessen der Rüstungskonzerne, sagen wir mal, nicht unberücksichtigt zu lassen. Das Problem der Rüstungsexporte ist auf jeden Fall mit dem Problem der gekauften Politik eng verknüpft.
Sie sind in Duisburg aufgewachsen, als Tochter kurdischer Eltern. Inwiefern sind Sie auch persönlich betroffen?
Ich mache keine Politik aus der Betroffenheitsperspektive. Alle Versuche einer Vereinnahmung als „türkischstämmig“ oder „kurdischstämmig“ habe ich stets abgelehnt. Meine Eltern kommen aus der Türkei. Aber das heißt nicht, dass ich eine Politik auf ethnischer Grundlage mache oder gar befürworte. Ich kritisiere als deutsche Politikerin die Rüstungsexporte in die Türkei, weil deutsche Waffen dort dazu dienen, Zivilisten niederzuschießen und Völkerrechtsbrüche durchzuführen. Als Linke prangere ich den Skandal an, dass die Bundesregierung, die Türkei unterstützt, die diejenigen mit deutschen Panzern niederwalzt, die sich dem IS entschieden entgegengestellt haben.
Quelle: der freitag