Geistige Mobilisierung
Von Sevim Dagdelen
Eine übergroße Koalition des Bundestages, bestehend aus Ampel und Union, will am Mittwoch beschließen, dass die Hungersnot der Jahre 1932/33 in der Ukraine ein Völkermord gewesen sei. Liest man den Antragsentwurf, wird schnell klar: Es geht nicht um das damalige Leid der Hungertoten. Es geht vielmehr um die geistige Mobilmachung gegen Russland heute.
Die überwältigende Mehrheit der Historiker zweifelt nicht daran, dass die Hungersnot durch politische Entscheidungen der sowjetischen Führung planvoll verschärft worden ist. Aber sie zweifelt am Genozidcharakter. Genau aus diesem Grund hat der Bundestag im Jahr 2017 noch eine Petition abgelehnt, die den »Holodomor« als Genozid anerkannt wissen wollte. Es spreche doch »einiges dagegen«, und es liege »nicht im Ermessen des Petitionsausschusses«, über eine in der Geschichtswissenschaft strittige Frage zu entscheiden, befand das Parlament damals, mit den Stimmen auch derjenigen, die das heute anders entscheiden wollen. Noch im Frühjahr 2022 fasste der Petitionsausschuss in einer vorläufigen Beschlussempfehlung zusammen, dass die Einschätzung, ob der Holodomor die Merkmale eines Völkermordes erfülle, weiterhin umstritten sei.
Die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft haben sich seit diesen Beratungen nicht geändert. Dennoch gehen die Antragsteller sogar so weit, den Holodomor »in die Liste menschenverachtender Verbrechen totalitärer Systeme« einzureihen. Damit machen sie en passant auch die Schoah und den faschistischen Vernichtungskrieg zum Teil einer »Liste« und relativieren so die Singularität des Holocaust.
Die geschichtspolitischen Feststellungen der Antragsteller werden in direkten Zusammenhang zur Lieferung von immer mehr und immer schwereren Waffen an die Ukraine durch die Bundesregierung gerückt. Ganz explizit wird gefordert, die Ukraine »im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel (…) militärisch zu unterstützen«, als wäre der heutige Krieg die Fortsetzung einer einst verlorenen Schlacht.
Sevim Dagdelen ist Mitglied des Bundestags für die Partei Die Linke
Quelle: junge welt