NATO zielt auf Raumgewinn

Dirk-OIiver Heckmann im Gespräch mit Sevim Dagdelen

Dirk-Oliver Heckmann: Am Telefon ist jetzt dazu Sevim Dagdelen von der Partei Die Linke. Sie ist Obfrau ihrer Partei im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages. Guten Morgen, Frau Dagdelen.

Sevim Dagdelen: Schönen guten Morgen, Herr Heckmann.

Heckmann: Nach dem Beschuss eines vollbesetzten Supermarkts in der Zentralukraine, in der Stadt Krementschuk mit zahlreichen Toten in der vergangenen Woche meldet Kiew jetzt den Beschuss eines Wohnhauses in Odessa, zehn Tote mindestens. Präsident Selenskyj nennt Putin einen Staatsterroristen. Wie nennen Sie ihn?

Dagdelen: Jedenfalls jemanden, der ein Land völkerrechtswidrig überfallen hat, was auf jeden Fall verurteilt und geahndet werden muss. Jedes Verbrechen muss untersucht und geahndet werden.

Heckmann: Ist er für Sie ein Kriegsverbrecher?

Dagdelen: Wissen Sie, Kriegsverbrechen – nicht die Politik entscheidet darüber, sondern die Justiz. Deshalb muss jedes mutmaßliche Kriegsverbrechen untersucht, aufgeklärt und geahndet werden. Das entscheidet aber der Internationale Strafgerichtshof. Das ist ja das Problem, mit dem wir tagtäglich in der Politik zu tun haben. Wir können immer nur juristisch korrekt von mutmaßlichen Kriegsverbrechern sprechen, und ich würde mir wünschen, dass Russland, aber auch andere Länder des Westens, die beispielsweise den Internationalen Strafgerichtshof nicht anerkennen, wie zum Beispiel die USA – die haben ja sogar die Chefanklägerin damals bedroht mit Einreiseverbot und Sanktionen, weil sie mutmaßliche Kriegsverbrechen in Afghanistan untersuchen wollte -, alle Länder müssen diese Gerichtsbarkeit unterstützen und achten und dem Völkerrecht wieder Geltung geben.

Heckmann: Frau Dagdelen, wir sprechen im Moment nicht über die USA, sondern über Russland und den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Wir haben gesehen, wir sehen täglich den Beschuss von Städten, den Tod von Zivilisten, die Ermordung von Personen in Städten, die von russischen Einheiten, vom Militär besetzt gewesen sind. Das heißt, für Sie liegt nicht klar auf der Hand, dass da tagtäglich  Kriegsverbrechen begangen werden?

Dagdelen: Natürlich liegt es auf der Hand, dass da Menschen getötet werden, dass sie leiden, dass das völkerrechtswidrig ist. Deshalb sage ich auch, das Gebot der Stunde muss es jetzt sein, diesen schrecklichen Krieg so rasch als möglich zu beenden. Deshalb bin ich auch froh über den neuen Appell von Publizisten, Wissenschaftlern und Militärs in Deutschland an die Regierungen des Westens, den Ukraine-Krieg durch Verhandlungen zu versuchen zu beenden, weil je länger dieser Krieg fortdauert, desto unklarer wird doch auch oder birgt es die Gefahr größerer Eskalationen, größerer Konfrontationen.  Deshalb muss alles dafür getan werden, diesen Krieg zu beenden. Ich möchte, dass das Leiden und dass der Tod von Menschen aufhört.

Heckmann: Aber Sie vermeiden schon den Begriff Kriegsverbrechen und weisen ihn nicht der russischen Seite zu?

Dagdelen: Nein, ich vermeide ihn gar nicht. Ich habe doch gesagt, wir haben nur das Problem, dass nicht die Politik darüber entscheidet, was Kriegsverbrechen sind, sondern wir brauchen Gerichte und wir haben ja Gerichte dazu international. Diese mutmaßlichen Kriegsverbrechen, dem muss man nachgehen und die müssen untersucht und aufgeklärt und geahndet werden. Da bin ich auf jeden Fall dafür.
Und wissen Sie, wenn Sie schon sagen, wir reden jetzt über Russland und nicht USA, das ist auch ein Problem. Wir reden darüber, dass das Völkerrecht ausgehöhlt wird. Ich bin dafür, dass wieder das Völkerrecht gilt und dass jeder, der das Völkerrecht verletzt, auch geahndet wird.

Heckmann: Weshalb wollen Sie immer über die USA sprechen, wenn es um den Krieg gegen die Ukraine geht?

Dagdelen: Das tue ich nicht.

Heckmann: Sie haben zweimal darauf abgehoben.

Dagdelen: Nee! Es geht mir darum, dass wir aufhören, mit zweierlei Maß zu messen. Das ist ja das Problem. Verstehen Sie, wenn wir Türen aufmachen, gehen andere durch diese Türen. Das haben wir als Linke schon gesagt, dass die völkerrechtswidrige Anerkennung der

Heckmann: Das heißt, die USA sind dafür verantwortlich, dass Russland jetzt in die Ukraine eingefallen ist?

Dagdelen: Nein! Das sagen Sie, das legen Sie mir in den Mund, diese Worte.

Heckmann: Das ist eine Frage.

Dagdelen: Nein. Das sind ja Suggestivfragen, was Sie hier stellen, und ich finde, ein gutes Interview macht sich dadurch bemerkbar, dass der Interviewer etwas wissen will und nicht den Gesprächspartner dissen möchte.

Heckmann: Nein, nein! Ich möchte Sie nicht dissen. Ich möchte wirklich wissen, wie Sie es meinen.

Dagdelen: Herr Heckmann, was ich sagte ist, anders als andere bin ich dafür, dass man das Völkerrecht achtet, aber keine doppelten Maßstäbe anlegt. Jetzt wurde wieder gesagt, die NATO sei ein Verteidigungsbündnis, von Bundeskanzler Scholz, und ich finde, das ist einfach falsch. Dieser Militärpakt, der ständig expandiert, ist kein Verteidigungsbündnis, sondern zielt auf Raumgewinn. Ich meine, 1999 hat die NATO in Serbien Belgrad angegriffen, Häuser, Fabriken und auch Personenzüge bombardiert. Es hat 2001 angefangen, 20 Jahre Krieg in Afghanistan zu führen mit über 200.000 Toten und mutmaßlichen Kriegsverbrechen, die es gegeben hat, wo die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs das untersuchen wollte und dann mit Sanktionen und Einreiseverbot belegt worden ist von den USA. Ich finde, wir machen uns einfach unglaubwürdig, wenn wir den einen Kriegsverbrechen vorwerfen oder auch völkerrechtswidrige Angriffskriege und die auch verurteilen – das ist ja auch richtig -, aber andererseits zum Beispiel NATO-Staaten wie die Türkei völkerrechtswidrige Angriffe in Syrien erlauben. Da machen wir uns einfach unglaubwürdig!

Heckmann: Frau Dagdelen, der Kreml-Chef Peskow hat dieser Tage gesagt, die NATO sei ein aggressiver Block, der für die Konfrontation geschaffen wurde. Putin nennt die NATO imperialistisch. Das sehen Sie auch so?

Dagdelen: Nein! Ich sehe es so, dass die NATO kein Verteidigungsbündnis ist, schon längst kein Verteidigungsbündnis mehr ist, ein Bündnis, was immer weiter die Grenzen oder den Raum verändert, entgrenzt, wie es jetzt in Madrid passiert ist. Das ist kein Verteidigungsbündnis. Schauen Sie mal, die NATO hat jetzt beschlossen, geographisch vor allen Dingen sich zu entgrenzen. Sie verschiebt sich immer mehr vom Nordatlantik – es heißt ja North Atlantic Treaty Organisation – in den Indopazifik. China wird ja ins Visier genommen und das heißt, wir haben eine völlige geographische Entgrenzung mit der NATO.

Heckmann: Die NATO entgrenzt sich, aber ich meine, wenn Schweden und Finnland nach Jahrzehnten der Neutralität sagen, wir möchten ganz schnell der NATO beitreten, um uns vor einem möglichen Angriff zu schützen, dann würden Sie sagen, das ist Ergebnis einer Ausweitungspolitik der NATO?

Dagdelen: Nein. Ich sage, das ist ein Ergebnis von dem Gefühl von Schweden und Finnland, dass sie sich unsicher fühlen. Natürlich haben Schweden und Finnland jedes Recht der Welt, eine Mitgliedschaft in der NATO zu beantragen, und trotzdem muss man sich die Frage stellen, wenn das behauptet wird mit dem Verteidigungsbündnis, ob das denn tatsächlich stimmt. Das finde ich mehr als fragwürdig. Dieses Selbstbild wird ja auch im globalen Süden zum Beispiel schlicht nicht mehr geglaubt und es wirkt hier, dass es leider auch zu selten zum Beispiel medial hinterfragt wird. Wir haben jetzt ja in Madrid nicht nur die geographische Entgrenzung, wo man sich nicht nur die Feindschaft zu Russland, sondern auch noch China sich ausgesucht hat und das beschlossen hat. Man hat jetzt noch mal eine Aufrüstung der NATO massiv nachgelegt und beschlossen.

Heckmann: Die NATO hat sich die Feindschaft Russlands ausgesucht, sagten Sie gerade. Ist das Ihr Ernst?

Dagdelen: Nein, ich meine, nachdem man das sowieso beschlossen hat. Russland war ja sowieso, die ganze Zeit gab es ja diese Konfrontation. Aber jetzt hat man ja auch China noch dazugenommen. Dazu kommt hinzu als ein zweites wesentliches Ergebnis vom NATO-Gipfel in Madrid, dass man eine weitere Aufrüstung jetzt beschlossen hat. Bereits jetzt gibt man ja 18mal mehr aus als Russland und mindestens das Vierfache Chinas. Das reicht aber nicht; der Gemeinschaftshaushalt soll ja bis 2030 um weitere 20 Milliarden gesteigert werden und Deutschland bezahlt hier mit 16,3 Prozent den Löwenanteil, neben den USA. Als drittes verheerendes Ergebnis dieses Gipfels ist zu verzeichnen, dass das Selbstbild der NATO als Wertegemeinschaft hier auch nicht mehr trägt. Schauen Sie sich doch diesen Deal mit dem türkischen Präsidenten Erdogan an, bei dem die Kurden wieder ans Messer geliefert werden, nur um die Zustimmung der Türkei für den NATO-Beitritt von Finnland und Schweden zu erhalten, und ich finde, das zeigt noch mal, das ist eine Bankrotterklärung der NATO in Sachen Demokratie und Menschenrechte.

Heckmann: Sie haben ein sehr, sehr schlechtes Bild von der NATO, das Sie hier transportieren. In der Realität ist die NATO derzeit wichtiger als je zuvor, zumindest wird sie so angesehen. Ich habe es gerade schon gesagt: Schweden und Finnland wollen so schnell wie möglich rein. Kann es sein, dass Sie durch die Realitäten überholt sind und nicht in der Lage sind, sich zu korrigieren?

Dagdelen: Herr Heckmann, der NATO-Krieg in Afghanistan hat über 200.000 Tote zu verzeichnen. Fragen Sie mal die Menschen in Afghanistan, ob sie die NATO feiern. Fragen Sie mal die Menschen in Libyen, als die NATO Libyen überfallen hat. Fragen Sie die Menschen in Serbien, wo die NATO Fabriken, Personenzüge, Häuser bombardiert hat. Ich meine, wir sollten wirklich aufhören, hier mit zweierlei Maß zu messen.
Natürlich ist es richtig, dass man ein Sicherheitsbündnis hat, aber ich werbe dafür, dass wir ein Bündnis haben, das statt um Aufrüstung um Abrüstung bemüht ist und um Entspannung bemüht ist und nicht sich weiter räumlich entgrenzt auf den Indopazifik jetzt auch noch konzentriert. Ich meine, wir heißen North Atlantic Treaty. Dann muss man eigentlich auch  den Namen ändern und sagen, wir sind ein globaler Militärakt, wenn wir nicht mehr nur an den Atlantik gehen, sondern auch in den Indopazifik.

Heckmann: Sie fordern immer wieder bekanntlich Verhandlungen, dass ein Verhandlungsprozess gestartet werden muss, was die Ukraine angeht. Jetzt sagt KremlSprecher Peskow, Verhandlungen gerne, aber nur bei einer bedingungslosen Kapitulation. Wollen Sie das den Ukrainern ernsthaft raten?

Dagdelen: Nein. Aber man muss natürlich immer auch bedenken, dass in der Diplomatie bei Verhandlungen jeder mit Maximalforderungen reingeht. Ich meine, es gibt keine Alternative zu Verhandlungen mit Russland. Die Alternative ist ja weiter auf den Krieg zu setzen. Und ich möchte das noch mal sagen, dass sind hohe Zahlen von Toten. Die sollte man sich vor Augen halten. Allein auf ukrainischer Seite. Präsident Selenskyj sprach Anfang Juni von 60 bis 100 getöteten Soldaten am Tag. Präsidentenberater Mychajlo Podoljak erklärte eine Woche später, die ukrainische Armee verliere 100 bis 200 Mann täglich. Insgesamt rechnet die Armee täglich mit Verlusten von 1.000, also Toten, Verwundeten, Gefangenen und Deserteuren. Und sie alle haben Familien. Ich finde, dass ist der Preis nicht wert, wenn man weiter immer nur darauf setzt, Waffen in die Ukraine zu liefern, einem Zermürbungskrieg das Wort redet, in dem man von Siegfrieden gegen Russland spricht, was völlig illusorisch ist, statt darauf zu setzen, jetzt einen Verständigungsfrieden hinzubekommen. Und natürlich werden wir keinen Diktatfrieden Russlands akzeptieren. Aber wir müssen auch einsehen, dass Russland keinen Diktatfrieden vom Westen akzeptiert. Es wird letztendlich auf einen Kompromissfrieden hinauslaufen, Herr Heckmann. Und das besser heute als die Tage danach.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Quelle: Deutschlandfunk

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