Gastvortrag an der Beijing-Universität: Eine multipolare Welt im Werden

Wird der von den USA und der EU gegen Russland geführte Wirtschaftskrieg auf China erweitert, wäre das der Beginn einer vom Westen initiierten De-Globalisierung. Gastvortrag von Sevim Dagdelen an der Beijing-Universität am 30. Mai 2023.

Sevim Dagdelen zu Besuch in der Beijing-Universität am 30. Mai 2023

„Es wird die neue Welt geboren, aus Hunger, Elend, tiefster Not“, so heißt es einem Liedtext des deutschen Spanienkämpfers und kommunistischen Schriftstellers Ludwig Renn. Heute stehen wir vor einer multipolaren Welt im Werden gegen die sich die Mächte der USA und des „Kap Asiens“, wie der französische Schriftsteller Paul Valéry einmal so treffend Europa bezeichnete, ganz im Zweifel, ob der Kontinent je mehr sein könne als eine geographische Bezeichnung, ein Kontinent, der jetzt in ganz überwiegendem Maße in einer bedingungslosen Gefolgschaft zu Washington sein Heil sucht.

In antithetischer Bindung scheinen zwei Ereignisse für die Geburt der multipolaren Welt im Monat Mai des Jahres 2023 von ganz entscheidender Bedeutung. An erster Stelle ist hier der G7-Gipfel in Japan zu nennen. Die G7, deren Legitimation erwächst, einstmals die sieben wirtschaftlich stärksten Staaten der Erde gewesen zu sein und die sich ganz einer liberal-kapitalistischen Seinsweise verschrieben haben mit den USA allen voran, spiegeln heute nicht mehr die globale Machtcharakteristik wider. Nicht nur, weil Länder wie China, Indien oder Südkorea unter die zehn stärksten wirtschaftlichen Staaten aufgestiegen sind, sondern weil ein anderer Zusammenschluss, der der BRICS-Staaten, mittlerweile die G7 wirtschaftlich überholt hat.

Die G7-Erklärung vom 20. Mai 2023 jedenfalls liest sich wie eine Kampfansage der alten Welt an die neue Welt. Betont wird in der Hiroshima-Erklärung, man sei „geeinter denn je in unserer Entschlossenheit, den globalen Herausforderungen dieser Zeit zu begegnen und die Weichen für eine bessere Zukunft zu stellen“. Zwar wird in der Folge die Achtung der Charta der Vereinten Nationen benannt, jedoch wird zum einen ein radikaler Wirtschaftskrieg gegen Russland beschworen, wie auch postuliert, die „diplomatische, finanzielle, humanitäre und militärische Unterstützung für die Ukraine zu verstärken“. Zugleich wird der Indopazifik als eigene Interessenssphäre markiert, als implizite Kampfansage an China, ohne die Volksrepublik direkt zu benennen.

Als zweites ist festzuhalten, dass innerhalb der EU die Debatte um eine Ausweitung des Wirtschaftskrieges gegen Russland im Mai 2023 einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Nach Vorlage der EU-Kommission dreht sich die Diskussion der EU-Mitgliedstaaten mittlerweile um ein 11. Sanktionspaket, das die extraterritoriale Erweiterung des Sanktionsregimes ins Zentrum stellt. Geplant wird, nunmehr Firmen aus der Türkei, aus Armenien, den Arabischen Emiraten und eben auch aus China mit zu sanktionieren – mit dem Argument, eine Umgehung der EU-Sanktionen gegen Russland verhindern zu wollen. Das Argument der Bundesregierung, es ginge nicht um Extraterritorialität, sondern lediglich um Exportverbote für die entsprechenden Firmen, ist nicht überzeugend. Man stelle sich nur einmal eine ähnliche Maßnahme Chinas gegen deutsche Firmen vor, die ihre in China mit produzierten Waren exportieren wollen. Selbstverständlich ist auch ein Exportverbot aus der EU eine extraterritoriale Sanktion. Mit der Entscheidung der ungarischen und griechischen Regierung, das 11. Sanktionspaket zu blockieren, könnte nur etwas Zeit gewonnen und die neuen Sanktionen aufgeschoben worden sein. Dennoch kann es für die Bundesregierung und die gesamte EU noch zum Wirtschaftskrieg kommen, aber er würde eine Menge Anstrengungen kosten.

Es ist, wenn man so will die Aufkündigung der selbst initiierten Globalisierung, der Beginn einer De-Globalisierung, initiiert vom Westen. Damit nimmt der Wirtschaftskrieg der USA, an dem sich die EU beteiligt, eine ganz neue Schärfe an. Zwar versucht auch der Europäische Auswärtige Dienst noch Bedenken beiseitezuschieben durch die Erklärung, es sollten lediglich die Exporte der entsprechenden chinesischen Firmen aus der EU nach Russland verhindert werden. Am Horizont aber zeichnet sich die Ausweitung der Kampfzone ab, mit unkalkulierbaren Folgen für die Weltwirtschaft, aber vor allem auch für die Bevölkerung in den EU-Staaten.

Denn statt „Russland zu ruinieren“, wie es die deutsche Außenministerin formuliert hatte, stagniert die Wirtschaft in Deutschland und der EU. Die in Folge der Russlandsanktionen explodierenden Preise insbesondere für Lebensmittel und Energie betreffen Millionen von Menschen in Europa und stellen das bisherige Wohlstandsmodell Europas radikal in Frage, auch weil die Produktionskosten für Unternehmen in Europa sich als Konsequenz aus den Energiepreiserhöhungen massiv ausgeweitet haben.

2022 hatten Beschäftigte in Deutschland bereits einen Reallohnverlust von 4% zu verzeichnen, das größte Minus seit dem Zweiten Weltkrieg. Auch für 2023 und 2024 werden weitere Reallohnverluste prognostiziert. Viele Beschäftigte werden in eine Armutsspirale gedrückt, da sie gerade auch die 2022 über 20% gestiegenen Lebensmittelpreise nicht mehr bezahlen können. Mittlerweile sind über zwei Millionen Menschen in Deutschland auf private Lebensmittelspenden angewiesen. Ihre Zahl hat sich 2022, im ersten Jahr des Wirtschaftskrieges, um 50% erhöht.

Sollten die Sekundärsanktionen der EU gegen China beschlossen werden und alles deutet im Moment darauf hin, würde der Wirtschaftskrieg der USA und der EU gegen Russland auf China ausgeweitet werden. Alles spricht für ein Szenario wie nach der Einführung der westlichen Sanktionen gegen Russland 2014 in Folge der Auseinandersetzungen um die Krim und den Donbass und die Unterstützung der USA für den Putsch in Kiew. Alles spricht dafür, dass der westliche Wirtschaftskrieg darauf zielt, die Souveränität des globalen Südens zu brechen und Staaten wie China und Indien vorzuschreiben, mit wem sie Handel betreiben dürfen und mit wem nicht.

Doppelte Standards bei Menschenrechten und Völkerrecht gehören zum Werkzeugkasten der Sanktionspolitik

Wenn man einen Beginn für einen Weltwirtschaftskrieg festmachen will, dann ist es dieser Mai 2023. Dabei geht es schon lange nicht mehr darum, Russland zu zerstören unter dem Vorwand, man wolle auf die Einhaltung des Völkerrechts dringen, sondern darum, eine globale Hegemonie in einer immer aussichtsloseren Lage zu verteidigen.

Worauf die Sanktionen wirklich zielen, dafür gibt es weltweit aber dankenswerter Weise ein immer dichteres Bewusstsein. So hat sich der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen mit großer Mehrheit gegen die einseitigen Sanktionen ausgesprochen. Bei den Nein-Sagern waren die USA, Großbritannien, Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Georgien und die Ukraine. 33 Mitgliedsländer stimmten am 3. April 2023 für und 13 gegen die „Resolution zu den negativen Auswirkungen einseitiger Zwangsmaßnahmen auf die Wahrnehmung der Menschenrechte“, die alle Staaten auffordert, „keine einseitigen Zwangsmaßnahmen mehr zu ergreifen, beizubehalten, durchzuführen oder anzuwenden“. Die Bundesregierung hat bereits leider erklärt, sich an diese Resolution nicht halten zu wollen. Ich würde das als vertane Chance bezeichnen.

Von vielen unbemerkt hat sich – neben der Aufrüstung der NATO und ihrem expansiven Charakter – die EU in Kopie der Sanktionspolitik der USA, entwickelt im Wirtschaftskrieg gegen den Irak in den neunziger Jahren, ein Instrumentarium zugelegt, um weltweit anderen Staaten ihren Willen aufzwingen zu können. Doppelte Standards bei Menschenrechten und Völkerrecht gehören zum Werkzeugkasten dieses Instrumentariums. Der Wirtschaftskrieg wird selbstverständlich nur gegen Staaten angebracht, die aus Sicht der USA und der EU als unbotmäßig gelten. Verbündeten, die das Völkerrecht brechen oder gar Mitgliedern des eigenen Klubs droht keine Ahndung.

Insofern gleicht das Instrumentarium den ungleichen Verträgen aus der Kolonialzeit, anderen Ländern unter moralischen Vorwänden zum eigenen Vorteil seinen Willen aufzuzwingen.

Was den Wirtschaftskrieg dabei vom Krieg unterscheidet, ist lediglich der Gebrauch ziviler Mittel, die allerdings auf militärische Ziele ausgerichtet sind. Die zerstörerischen Folgen dieser zivilen Maßnahmen können weit verheerender sein als der Einsatz von Waffen.

„Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, so lautet das berühmte Diktum des preußischen Militärtheoretikers Clausewitz. Das gilt selbstverständlich auch für den Wirtschaftskrieg. Sowohl die militärische Unterstützung der Ukraine durch den Westen als auch die Sanktionen zielen auf den Ruin Russlands. Die Ausweitung der Sanktionen auf China ist ebenso zu werten. Die Ankündigung der Sanktionen gegen chinesische Unternehmen ist der Beginn eines Wirtschaftskrieges des Westens, um den globalen Süden niederzuringen und insbesondere China seinen Willen aufzuzwingen. Es ist die Fortsetzung einer Politik, die auf globale Hegemonie durch den Einsatz ökonomischer und militärischer Gewalt zielt.

Der Wirtschaftskrieg der USA und der EU zielt auch auf die Selbstunterwerfung Europas

„Divide et impera“ war das Markenzeichen des Römischen Imperiums. Der politische Philosoph Nicolo Machiavelli erläuterte in seinem 1532 veröffentlichten Buch „Der Fürst“ diese Herrschaftstechnik. Und es war nicht zuletzt die Herrschaftstechnik des britischen und des US-amerikanischen Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert. „Divide and Rule“ ist aber auch das Signum, das den immer neuen Sanktionspaketen der USA und der EU innewohnt. Staaten sollen abgeschreckt werden, weiter Handelsbeziehungen mit als „Outlaws“ erklärten Staaten zu unterhalten. Indem man diese auseinandertreibt, wird auf die Zementierung eigener Herrschaft gezielt.

Verheerend allerdings für diese Herrschaftstechnik ist eine internationale Solidarität von 80% der Staaten weltweit, die nicht mitmachen bei den Sanktionen. Auf die zielen in der Folge die internationalen Sanktionen. Der deutsche Dichter Hölderlin hat einmal formuliert: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Insofern könnte die mögliche Erweiterung der BRICS ein wichtiger Schritt sein, das neokoloniale Prinzip des „divide et impera“ zu durchbrechen. Und vielleicht könnte das die westlichen Regierungen einschließlich der deutschen dazu bringen, ihre gegenwärtige Politik mit dem Risiko einer Selbstisolierung zu überdenken.

Das Bemerkenswerte ist aber, dass der Wirtschaftskrieg der USA und der EU, der die Frage demokratischer Souveränität eklatant berührt, nicht nur auf die Unterwerfung von Dritten zielt, sondern auch auf die Selbstunterwerfung Europas. Dazu ein kurzer Blick in die Geschichte: Britisch-Indien wurde von wenigen tausend britischen Kolonialbeamten verwaltet. Zur Herrschaftssicherung dienten auch etwa 500 Fürstenstaaten, die Teil des britischen Kolonialreiches waren. London sicherte ihnen die Herrschaft und im Gegenzug sicherten sie London die Gefolgschaft und waren Teil des kolonialen Unterdrückungssystem.

Gastvortrag von Sevim Dagdelen an der Beijing-Universität am 30. Mai 2023

Warum müssen wir im Hinblick auf den Wirtschaftskrieg gegen Russland von einer Selbstunterwerfung Europas sprechen? Augenfällig ist, dass insbesondere Deutschland als wirtschaftlich stärkstes EU-Mitgliedsland und größter Einzahler in den EU-Haushalt die Wirtschaftssanktionen gegen Russland aufgesetzt hat, obwohl anders als in den USA massive Schäden für die eigene Wirtschaft und die eigene Bevölkerung zu erwarten waren. Hier kommt das Herrschaftsprinzip „Einen anderen vorschicken zum eigenen Vorteil“ voll zum Tragen. Kritiker würden sagen: Der Lohn für die Bundesregierung scheint dann wie der eines Vasallen, wenn auch in untergeordneter Stellung, an der Glorie des Hegemon teilhaben zu können.

Aber ist das wirklich der Hauptgrund, oder müssen wir uns einfach mit einer Politik abfinden, die in eine Sackgasse führt? Und wir beobachten dieses Sich-nach-Vorne- Schickenlassen ja nicht nur bei den ursprünglichen Sanktionen gegen Russland, sondern eben auch dort, wo es um die Lieferung deutscher Kampfpanzer und eine Finanzierung von US-Kampfflugzeugen vom Typ F16 geht, die gegen Russland zum Einsatz gebracht werden sollen. Und jetzt auch, wenn es darum geht, im Wirtschaftskrieg gegen China bildlich besprochen den ersten Schuss abzufeuern. Allerdings können wir in Bezug auf China immer noch ein gewisses Zögern der Bundesregierung beobachten, sich in die Schusslinie zu begeben.

China ist weiterhin der größte Handelspartner Deutschland. Wer die Bundesregierung auffordert, einen Wirtschaftskrieg gehen die Volksrepublik zu riskieren, wie es manche tun, setzt den Wohlstand eines großen Teils der Bevölkerung in Deutschland, aber auch Europas auf Spiel. Europa würde zu einem „Kap Asiens“, das ohne politische Bestimmung allein sein Heil in einem immer selbstzerstörerischen Vasallenverhältnis zu den USA suchen würde. Die politische Selbstaufgabe Europas wird von einer Kompradorenbourgoisie ins Werk gesetzt, die an das Lateinamerika der 1970ger Jahre gemahnt. Einer Bourgeoisie, für die die Bedienung der Interessen von US-Konzernen und der geopolitischen Maßgaben aus Washington oberste Priorität hat. Die EU und ihre Behörden könnten dabei lediglich als Transmissionsriemen nicht etwa der Interessen der Bevölkerungen der Mitgliedstaaten erscheinen, sondern einer transatlantischen vorgestellten Gemeinschaft, die auf Krieg und Hegemonie zielt. Mit dem Ziel, einem Oligarchenkapitalismus der USA global mit den Weg zu bahnen und der Bereicherung von Wenigen zu Lasten der Vielen.

Neukalibrierung der EU-China-Politik

Dazu passt das jüngste Strategie-Papier zu China des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell. In dem heißt es, dass „Kooperation, Wettbewerb und Rivalität weiterhin im Mittelpunkt der China-Politik der EU stehen werden, auch wenn die Gewichtung dieser verschiedenen Elemente je nach Chinas Verhalten variieren kann“. Medial wurde damit eine konfrontative Wende in der EU-China-Politik verknüpft. Borrell betont, dass für die „Neukalibrierung“ der China-Politik eine Koordinierung „weiter unerlässlich“ sei. Rekalibrierung klingt wie der Ruf nach einem grundlegenden Wandel. Als einer der Gründe, warum man diese Neukalibrierung der EU-China-Politik auf die Schiene setzen muss, wird die Verschärfung des Wettbewerbs zwischen den USA und China genannt. Borrell erklärte, dass dieses Papier und der darin enthaltene grundsätzliche Ansatz auf Einigkeit der Mitgliedstaaten gestoßen seien.

Und hier sehen wir leider, wie fast in Zeitlupe der Grundstein für eine konfrontative europäische Außenpolitik gelegt wird. Das mag umso mehr verwundern, als ja immer wieder betont wird, es ginge nicht um ein „De-Coupling“. Aber nur ein Narr wird bestreiten wollen, dass genau dieser Weg jetzt bestritten wird, denn Sanktionen werden Gegenmaßnahmen nach sich ziehen, die dann wiederum als Beleg für neue Sanktionen und Sanktionsverschärfungen herhalten müssen. Die Büchse der Pandora wird sehenden Auges geöffnet, denn aufgrund der Dynamik von früheren Wirtschaftskriegen wird jeder gewissenhafte Mensch konstatieren müssen, dass genau so, mit ganz kleinen Schritten, der Weg in den Wirtschaftskrieg begonnen hat. Begriffe wie De-Risking überzeugen nicht wirklich, dass es um einen anderen Weg gehen würde.

Aber ist das wirklich so? Ist dies nicht ein überzeichnendes Bild, müssen wir uns fragen und unsere Argumente sorgfältig prüfen.

Wie passt beispielsweise dazu die Erklärung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der für einen Dritten Pol Europas zwischen China und den USA wirbt und eine souveräne europäische Außenpolitik einfordert?

„Das Schlimmste wäre zu denken, dass wir Europäer bei diesem Thema zu Mitläufern werden und entweder dem amerikanischen Duktus oder einer chinesischen Überreaktion folgen müssen.“ Das sagte Macron noch Anfang dieses Jahres zusammen mit dem Konsens der EU-Mitgliedstaaten bei der neuen Konfrontationsstrategie gegenüber China und der erklärten Gefolgschaft gegenüber den USA.

Und wenn dies so ist, warum haben wir es hier mit so einem eklatanten Widerspruch zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Reden und Handeln zu tun?

Irreversible Erosion der Glaubwürdigkeit europäischer Außenpolitik

Alles spricht dafür, dass Macrons Erklärung für eine souveräne europäische Außenpolitik nicht ernst gemeint ist. Denn wer würde so selbstmörderisch sein, einen eigenen Wirtschaftskrieg zu beginnen, bei dem man sich auch noch von Washington als erster ins Feuer schicken lässt, um den USA den Rücken zu stärken? Nein, Macrons Souveränismus ist nur verständlich vor dem Hintergrund einer großen Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Vertretung ihrer Interessen durch die politische Klasse. Macron hat also hier vor allem als Innenpolitiker gesprochen, um die Gemüter in seinem Land zu beruhigen und etwas zu suggerieren, was real gar nicht stattfindet. Macrons „souveräne europäische Außenpolitik“ scheint eben nicht mehr als ein Wirtshausschild.

Wahrscheinlich ist sich Macron dessen gar nicht bewusst, aber das Märchen von der souveränen europäischen Außenpolitik dürfte global eine ähnlich verheerende Wirkung haben, wie das Eingeständnis der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass die Minsker Abkommen aus dem Jahr 2014 lediglich den Zweck erfüllt haben, um der Ukraine Zeit zur Aufrüstung zu geben. Hier musss man mit Immanuel Kant daran erinnern, dass kein Friedenschluss den Namen auch nur verdient, wenn man ihn allein unternommen hat, um im Geheimen einen neuen Krieg zu planen oder die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Das schrieb der große Philosoph in seinem Werk „Zum Ewigen Frieden“ und das trifft auf das Diktum von Angela Merkel zu.

Kurz, wir haben es hier mit einer irreversiblen Erosion der Glaubwürdigkeit europäischer Außenpolitik zu tun: Verträge zur Eindämmung eines Konflikts, um Zeit für die Aufrüstung zu gewinnen und für einen neuen Waffengang. Und Zusicherungen eigenständiger und nicht-konfrontativer Außenpolitik, während man einen Wirtschaftskrieg einleitet. Europa, so scheint es, ist am Scheideweg falsch abgebogen und wählt die Konfrontation.

Aber auch Deutschland hat sich für den falschen Weg entschieden. In Reaktion auf den Beginn des Ukraine-Krieges hat der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz eine „Zeitenwende“ ausgerufen und sich für eine starke deutsche Aufrüstung ausgesprochen. Deutschland ist auf dem Weg, drittstärkste Militärmacht weltweit zu werden. Viele Menschen in Deutschland fragen, wozu? Ist der Krieg in der Ukraine wirklich Grund für diese größte militärische Aufrüstung seit dem Zweiten Weltkrieg?

Dazu kommt, dass Deutschland durch seine Waffengeschenke an die Ukraine den Stellvertreterkrieg der NATO dort befeuert und finanziell die Ukraine mit deutschen Steuergeldern massiv alimentiert, damit Kiew den Krieg weiterführen kann, trotz des massiven Einbruchs des Wirtschaftswachstums. Deutschland ist im Krieg, geführt als Stellvertreterkrieg und Wirtschaftskrieg. Und was die Vorgeschichte des Angriffs Russland angeht: Selbst jemand wie Henry Kissinger hat jüngst erklärt: „Ich bin übrigens nicht der Meinung, dass alle Schuld bei Putin liegt.“

Rüstungsland Deutschland

Es besteht die große Gefahr, dass Deutschland zu einem Rüstungsland wird mit allen Konsequenzen, die dies hat. Während Bildung und Infrastruktur verfallen, setzt die Bundesregierung auf Hochrüstung und fährt eine selbstzerstörerische Wirtschaftsattacke auf Russland. Mit Hybris ist man beseelt, auch China an der Seite der USA Mores zu lehren. Eine fatale Situation. Allein in den letzten acht Jahren wurde der deutsche Verteidigungshaushalt von 32,44 Milliarden Euro in 2014 auf 50,33 Milliarden Euro gesteigert. 2023 kommen auf das offizielle Rüstungsbudget von 50,1 Milliarden Euro noch 8,5 Milliarden aus dem 2022 beschlossen „Sondervermögen“ von 100 Milliarden zur Aufrüstung hinzu. Sprich der Rüstungshaushalt Deutschlands erreicht in diesem Jahr mit 58,6 Milliarden bereits ein neues Hoch. Und nach NATO-Kriterien kommen hier bis zu 5 Milliarden obendrauf.

Dem deutschen Verteidigungsministerium stehen, wenn man in Zukunft 2% des Bruttoinlandsprodukts für Rüstung und damit 81 Milliarden Euro ausgeben will, in etwa so viel Geld zur Verfügung wie für Gesundheit (€24,48 Mrd.), Bildung (€21,46 Mrd.), Klima (€14,57), Entwicklung (€12,15) und Auswärtiges (€7,47 Mrd.) zusammen.

Dazu kommen die Investitionen in den Stellvertreterkrieg der NATO in der Ukraine. Deutschland hat hier mit bisher 7,4 Milliarden Euro an Militärhilfe und 16,8 Milliarden Euro an Hilfen insgesamt einen Spitzenplatz. Wenn man die gesamten Kosten bisherigen der deutschen Kriegspolitik zusammenfasst, entfallen auf jeden Haushalt in Deutschland stolze 14.000 Euro.

Zugleich verfällt die Infrastruktur in Deutschland dramatisch. Die Deutsche Bahn hat am 16. März 2023 mitgeteilt, dass „26 Prozent aller Weichen derzeit in einem schlechten, mangelhaften oder ungenügenden Zustand, ebenso elf Prozent aller Brücken, 22 Prozent der Oberleitungen, 23 Prozent der Gleise, 42 Prozent aller Bahnübergänge und 48 Prozent aller Stellwerke“. Es wird auf Verschließ gefahren. Massive Verspätungen sind an der Tagesordnung. Ähnlich katastrophal ist der Zustand von Straßen und Brücken.

Dazu kommt die schlimme Situation in Deutschland, was Bildung angeht: Wie aus der am 16. Mai 2023 in Berlin vorgestellten internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) hervorgeht, erreichen 25 Prozent der Kinder in dieser Altersstufe nicht das Mindestniveau beim Textverständnis, das für die Anforderungen im weiteren Verlauf der Schulzeit nötig wäre. Bei der letzten Iglu-Erhebung, die Ende 2017 veröffentlicht wurde, lag der Anteil dieser Gruppe noch bei 19 Prozent.

Kurz: Ein Land, das statt vor allem in Bildung, Gesundheit und das Wohlergehen seiner Bürger in einen Stellvertreterkrieg und Aufrüstung investiert, steckt in einer tiefen Krise. Die Handelsbeziehungen mit unserem größten Handelspartner China auch noch aufs Spiel zu setzen und damit schlicht die Existenz der deutschen Autoindustrie, in der in Deutschland über 850.000 Menschen arbeiten, droht diese Situation noch zuzuspitzen.

Strategische oder politische Autonomie der EU?

Oft wird als Medizin, um aus dieser Krise zu kommen, die Schaffung eines starken Europas angepriesen, das „strategische Autonomie“ auch gegenüber den USA erlangen solle. Symptomatisch hier ist etwa eine Studie des European Council on Foreign Relations (ECFR), die zwar richtigerweise ein zunehmendes Vasallenverhältnis gegenüber den USA seit dem Beginn des Ukraine-Krieges konstatiert und festhält, dass, die EU in den vergangenen 15 Jahren gegenüber den USA in vielfacher Hinsicht zurückgefallen ist. War die Wirtschaftsleistung der EU im Jahr 2008 mit 16,2 Billionen US-Dollar noch deutlich größer als diejenige der Vereinigten Staaten mit 14,7 Billionen US-Dollar, so kamen die USA im vergangenen Kriegsjahr 2022 bereits auf mehr als 25 Billionen US-Dollar, die EU plus Großbritannien hingegen lediglich auf 19,8 Billionen US-Dollar.

Zugleich empfiehlt der ECHR die alte Medizin, die in den vergangenen Jahren mit dazu geführt hat, dass sich die Lage derart verändert hat, was da wäre: mehr Aufrüstung und die stärkere Beseitigung von Souveränitätsrechten der EU-Mitgliedstaaten vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik. Als Vorbild gelten dann die USA, die ihren Militärhaushalt von 656 Milliarden US-Dollar im Jahr 2008 auf 801 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021 gesteigert haben, während EU und Großbritannien, die 2008 bei 303 Milliarden US-Dollar gelegen hätten, immer noch „nur“ 325 Milliarden US-Dollar für Militär und Rüstung ausgeben würden.

Das Problem aber ist, dass sowohl eine stärkere Aufrüstung wie auch die Beseitigung der Souveränitätsrechte der EU-Mitgliedsstaaten zugunsten von EU-Institutionen, die als Transmissionsriemen für die Durchsetzung von US-Interessenpolitik dienen, genau das entgegengesetzte Ergebnis bringen. Sie verstärken die Hörigkeit noch weiter und lassen eine politische Autonomie in unerreichbare Ferne abgleiten. Entscheidend ist, dass die Orientierung der USA auf eine globale Hegemonie mittels Militärinterventionen und Wirtschaftskriegen nicht in Frage gestellt wird, obwohl sie für die europäischen Vasallen eine selbstzerstörerische Wirkung hat und die vom ECFR beschriebenen Entwicklungen des ökonomischen Abstiegs Europas weiter verstärken dürfte.

Dabei zeigt das Beispiel des Ukraine-Krieges wie wichtig eine politische Autonomie Europas mit einer friedlichen Orientierung sein würde. Im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages habe ich es selbst im Vorfeld des Krieges leider erleben dürfen, dass die Initiativen Russlands für Verträge der gegenseitigen Sicherheit in Europa von der Bundesregierung nicht ernst genommen wurden. Alle Bedenken im Hinblick auf die NATO-Expansion und hinsichtlich einer Stationierung von Raketen in der Ukraine wurden vom Tisch gewischt. Und dieses Dilemma setzt sich jetzt fort, da sich die EU-Kommission und die Bundesregierung an der Seite der USA bisher echten diplomatischen Lösungen verweigern. Wie die G7 präsentieren sie ein einseitiges Nachgeben Russlands als „Lösung“ zusammen mit einem von ihnen erhofften militärischen Sieg der Ukraine, für den die NATO immer mehr und immer schwerere Waffen bereitstellt. Das kommt einer Realitätsverweigerung gleich mit der Gefahr, einen dritten Weltkrieg heraufzubeschwören oder zumindest in der Logik der Eskalation den Krieg immer mehr ausweiten zu wollen und dieses Risiko auch noch sehenden Auges einzugehen.

Die unermesslichen Zerstörungen, die sinnlosen Toten und die Leiden der Zivilbevölkerung sprechen aus meiner Sicht für eine sofortige Waffenruhe im Krieg in der Ukraine, den Russland am 24. Februar 2022 begonnen hat.

Neues Frankensteinmonster in der Ukraine

Ich will Ihnen aber ein weiteres Argument nennen, warum es von globalem Interesse ist, diesen Krieg diplomatisch zu beenden. Und es sei bemerkt, dass es sträflich war von den USA und von Großbritannien, Verhandlungen für eine diplomatische Lösung vor etwas mehr als einem Jahr zu hintertreiben.

Wir haben es im Syrien-Krieg erlebt, wie der Westen islamistische Terrorkämpfer unterstützt hat, in dem irrigen Glauben dies könnte zum Sturz Assads führen. Mit dem ISIS wurde ein regelrechtes Frankensteinmonster geschaffen, das furchtbare Verbrechen an den Menschen in Syrien und im Irak begann.

In der Ukraine haben wir es nun mit der Gefahr zu tun, dass wieder vom Westen aus, ein neues Frankensteinmonster geschaffen wird, das sich zu einer globalen Gefahr für Sicherheit und Frieden entwickeln kann. Was meine ich damit? Ich will ihnen hier nur zwei Hinweise aus den vergangenen Tagen geben. Am 24. Mai postete das ukrainische Verteidigungsministerium das Foto eines deutschen Leopard-2-Kampfpanzers, der an die Ukraine geliefert worden war. Auf diesem Kampfpanzer war die schwarz-rote Fahne der faschistischen Organisation UPA gehisst. Die UPA mit ihrem Säulenheiligen Stephan Bandera, dem in der heutigen Ukraine staatliche Verehrung zukommt, steht in der Tradition derjenigen, die im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kollaborierten und selbst tausende Juden und Polen umbrachten. Diese Leute sitzen jetzt offenbar an den entscheidenden Schaltstellen in der Ukraine. Man will sich nicht ausmalen, wozu sie fähig sind, sollte der Krieg einmal enden.

Als zweites will ich den Überfall von Freischärlern der so genannten Legion „Freiheit für Russland“ und „Russische Freiwilligenkorps“ auf russische Dörfer vor wenigen Tagen erwähnen. Führend sind hierbei pro-ukrainische Neonazis, einige davon auch noch mit Deutschland-Bezug. Diese Freischärler-Korps sollen mittlerweile Tausende von Terrorkämpfern umfassen. Kombattantennamen wie „White Rex“ bei führenden Mitgliedern weisen auf eine rassistische Überlegenheitsideologie einer vorgestellten überlegenen Rasse hin. Es wird hier zurecht von der Gefahr einer „Snow-ISIS“ gesprochen. Die Überfälle sind ohne die logistische Hilfe der Ukraine nicht vorstellbar, wie auch die Ausbildung tausender Terrorkämpfer.

An diesen beiden Beispielen lässt sich sehen, dass der Westen im Stellvertreterkrieg der NATO in der Ukraine eine Drachensaat sät, die ganz anders aufgehen könnte, als man sich dies vielleicht vorgestellt hat und deren Wachstum zu einer Gefahr für Frieden und Sicherheit weltweit zu werden droht. Eine sofortige Beendigung des Krieges wird umso dringlicher, allein um eine „weiße ISIS“ nicht entstehen zu lassen.

Die großen Herausforderungen der Menschheit rufen nach gemeinsamen Lösungen. Aus der aktuellen Not kann eine neue Welt entstehen, eine Welt, in der der globale Süden nicht weiter das Feld militärischer Expeditionen und neokolonialer Ausbeutung ist, in der die kapitalistische Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die Zerstörung von Klima und Natur zurückgedrängt wird. 80% der Staaten beteiligen sich nicht an dem Wirtschaftskrieg gegen Russland und stehen für Diplomatie, statt immer mehr Waffen zu liefern. Gegenseitige wirtschaftliche Kooperation und Austausch zum wechselseitigen Vorteil ist das Leitbild eines globalen Humanismus.

Deutschland bezahlt dagegen einen hohen Preis, dass es sich im Schlepptau der USA einer Kooperation mit der neuen Welt verweigert.

Am 25. Mai 2023 wurde vom Statistischen Bundesamt vermeldet, dass die deutsche Wirtschaft im Winter in eine Rezession gerutscht ist. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist im ersten Quartal im Vergleich zum Vorquartal um 0,3 Prozent geschrumpft. Nachdem die Wirtschaftsleistung schon im vierten Quartal 2022 um 0,5 Prozent zurückgegangen war, sind damit die Kriterien für eine Rezession erfüllt. Die Aussichten für diese Jahr sind mehr als trübe. Auch in der EU insgesamt lahmt die Wirtschaft.

Es gilt alles zu tun, damit auf dem „Kap Asiens“ nicht eine neue furchtbare Armut einkehrt, die den Kontinent auch in seinen politischen Grundfesten erschüttern wird. Meine feste Überzeugung ist, dass dies nur bei einer Emanzipation von den USA gelingen kann und einer Politik, die nicht auf Aufrüstung, Säbelrasseln und die Erfüllung der Profitinteressen von US-Oligarchen setzt, sondern sich den Verlockungen der Sanktionsverheißungen verweigert.

Ich danke Ihnen.


Sevim Dagdelen ist Obfrau der Fraktion DIE LINKE im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages und Sprecherin für Internationale Politik.

Quelle: Overton

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